Wachstum, immer eine Top-Ziel? | Dr. Johann Kornelsen
08 | 04 | 2019

Wachstum – Immer ein Top-Ziel?

Nichts erfüllt mich mehr als zu sehen, wie sich einzelne Personen verändern und mit ihnen ihr gesamtes Unterneh­men. Wächst der Unterneh­mer als Persönlichkeit, verändern sich auch zwangsläufig die Mitarbeiter im Unternehmen. Doch ist Wachstum das, worauf es alleine ankommt, wenn der Anspruch ist, als Unternehmer mehr Zeit für die Dinge zu gewinnen, die man liebt?

Wie groß soll mein Unternehmen werden?

Es kommt, wie so oft, darauf an, welche Ziele ein Unternehmer verfolgt und in welcher Branche er tätig ist. Ich habe als Wegbegleiter und Unterneh­mensberater schon ver­schie­dene Szenarien erlebt. Wem es gelingt, fähige Mitarbeiter zu gewinnen und Aufgaben erfolgreich zu delegieren, gewinnt Zeit. Manche meiner Kunden verdienen ihr Geld mit Dienst­leis­tungen, bei denen sie mit ihren Kollegen zusammen Zeit gegen Geld tauschen. Der wichtigste Hebel dabei ist jeden Monat der Deckungs­beitrag pro Mitarbeiter. Je mehr Mitarbeiter jeden Monat abre­chenbar sind, desto besser geht es dem Unternehmen ertragsmäßig. Hier ist es häufig jedoch zwingend, eine kritische Größe von mehr als 20 Mitarbeitern zu erreichen. So habe ich erlebt, dass eine Krank­heits­welle fast die Insolvenz eines Kunden bedeutete, weil einige Mitarbeiter wochen- bis monatelang ausfielen. In solch einem Fall bedeutet eine höhere Anzahl von Mitarbeitern auch Stabilität. In Branchen, in denen nicht zwangsläufig Geld gegen Aufwand getauscht wird, wie z. B. im Maklergeschäft, ist es möglich, mit drei Mitarbeitern jedes Jahr sechs­stel­lige Erträge zu generieren. Ähnliches habe ich bei cleveren e-commerce-Unternehmern erlebt, die mit 5–6 Personen mehr als eine halbe Million Erträge pro Jahr generierten und als Eigentümer z. T. nur halbtags aktiv waren. Alles eine Sache der Branche und der Frage, ob es einem Unterneh­mer gelingt, ein System mit den richtigen Leuten zu bauen.

Wachstum kann aber auch ein Fluch werden, wenn die Persönlichkeit des Eigentümers nicht zur Unternehmens­größe oder Branche passt. Ein äußerst fähiger Kunde aus der Vergangenheit erkannte, dass Mitarbeiterführung – insbesondere das konsequente Anleiten von Mitarbeitern – etwas war, was ihn energetisch aussaugte. Er entschied, dass er lieber mit einem kleinen Team von gleich­be­rech­tigten Partnern arbeiten möchte. Er wurde zufriedener und der Ertrag mit drei Personen überstieg den Gewinn mit 10 Mitarbeitern und zwei Abteilungen. Somit ist Wachstum nicht das Allheilmittel und auch nicht der Weg, um als Unternehmer mehr Freizeit für sich oder neue Projekte zu gewinnen.

Arten des Wachstums

Oliver Wegner veröffentlichte in der Zeitschrift managerSeminare (www.managerseminare.de), welche Unternehmern und Selbstständigen sehr praktische Handreichungen in Sachen Führung und Organisations­ent­wicklung bietet, einen wertvollen Artikel mit einer wichtigen Perspektive auf das Wachstumsthema. Demnach ist quantitatives Wachstum, welches sich an Umsatz, Ertrag, Anzahl der Mitarbeiter messen lässt, lediglich die Folge von qualitativem Wachstum. Qualitative Wachstumsfaktoren sind die wirklichen Ursachen für dauer­haf­tes Wachstum. Dazu gehört die Innovationskraft, eine hohe Mitar­bei­ter­zufriedenheit, Teamarbeit oder die Unternehmenskultur eines Unterneh­mens.

Als ich diese Unterscheidung kennenlernte, wurde mir schlagartig bewusst, was ich bei einzelnen Kunden erlebte, denn Unternehmen kamen aus verschiedenen Gründen auf mich zu. Manche Firmen wachsen quantitativ sehr schnell, sind aber innerlich krank, weil Misstrauen und Unzufriedenheit unter den Mitarbeitern dominieren. Diese Art von Wachstum wird von Wegner als „krankes Wachstum“ bezeichnet und ist extrem gefährlich für die Zukunft eines Unternehmens. Dort bin ich als Führungskräftecoach oder Mediator damit beschäftigt, Konflikte zu klären und das Vertrauen im Unternehmen wiederherzustellen. Ein anderes Unternehmen, welches ich seit 2,5 Jahren begleite, litt eher darunter, dass der Geschäftsführer zu wenig Blick nach außen richtete. Neue Strukturen, stärkere Vertriebs­orien­tierung und bewusste Delegation von Aufgaben führten zu explosivem Wachstum, was kein Risiko war, denn die Unternehmenskultur war extrem gesund und Mitarbeiter vertrauten einander und dem Vorgesetzten blind. In dieser Situation kann eher von einem „gehemmtem Wachstum“ gesprochen werden. Wer in beiden Dimensionen nicht wächst, wird untergehen, wer beide Faktoren vereinen kann, der wird mit seinem Unternehmen gesund wachsen. Wegner fasst dies in seinem Artikel gut zusammen:

Größer ist nicht immer besser. Eine simple Weisheit, für die viele Führungskräfte wenig Verständnis haben. Sie wollen ihr Unternehmen unbedingt in Sachen Umsatz, Ertrag, Marktposition und Co. zum Schwergewicht machen – und übersehen dabei oft, dass sich die Firma an ihrem eigenen Wachstum verhebt.

Manchmal ist Wachstum sicher auch alternativlos, wenn du z. B. in einer wettbewerbsorientierten Branche mit vergleichbaren Dienstleistungen oder Produkten unterwegs bist. Manchmal sollten Unternehmern und Selbst­stän­dige aber auch sehr selbst­kritisch sein und die eigene Persönlichkeit berück­sich­tigen. Nicht jeder Unter­neh­mer hat Lust, sich überwiegend um Mitarbeiter- und Führungsherausforderungen zu kümmern und würde mit einer klei­ne­ren Truppe besser fahren. Letztlich bleibt die Frage: Wo ist deine Komfortzone? Was möchtest du mit meinem Unternehmen überwiegend erreichen? Höheres Einkommen oder mehr Freizeit? Finanzielle Mittel für größere Projekte? Du entscheidest selbst, wozu dein Unternehmen dir dienen soll. Vielleicht lautet dein Ziel auch, möglichst viele Arbeitsplätze in der Region zu schaffen und zu sichern. Ich habe immer folgenden Anspruch für meine Kunden: Mehr Zeit für die Dinge, die du liebst, die für dich bedeutsam sind. Ich genieße es schon eine ganze Weile, mit Unternehmern gemeinsam herauszufinden, was zu ihnen passt, was ihre Herzenswünsche sind und wie sie das Unternehmen so aufstellen können, dass sie sich auf die Dinge konzentrieren können, die ihnen viel bedeuten. Ich würde mich sehr freuen, zu lesen, was du zu meinen Gedanken zu sagen hast. Findest du dich wieder? Lösen die Zeilen eher Widerspruch bei dir aus? Gern können wir hier diskutieren …